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Das KIT-München – Schließen einer Versorgungslücke

Als sich das Krisen-Interventions-Team im Jahr 1994 einsatzklar meldete, war es weltweit das erste seiner Art und wurde in den folgenden Jahren zur Blaupause für viele vergleichbare Teams auf der ganzen Welt.

Inzwischen wird der Tätigkeitsbereich von Krisen-Interventions-Teams als Psychosoziale Akuthilfen (PSAH) bezeichnet, welche einen wesentlichen (aber bei weitem nicht den einzigen) Bestandteil der Psychosozialen Notfallversorgung für Betroffene (PSNV-B) darstellt.

PSNV-B insgesamt umfasst die vollständige Versorgungskette Betroffener nach belastenden Ereignissen bis hin zu einer möglichen längerfristigen Unterstützung, etwa im Rahmen einer Psychotherapie. PSAH war zum Gründungszeitpunkt zwar in einigen Ländern bereits rudimentär vorhanden, ihr Einsatz allerdings lediglich für Terror-Anschläge, Naturkatastrophen oder vergleichbare Großschadenslagen vorgesehen.

Für „Individualereignisse“, wie Andreas Müller-Cyran die Vielzahl möglicher Meldebilder zusammenfasst, die nur eine oder wenige Personen betreffen, gab es hingegen keinerlei staatlich organisierte Betreuung.

Positiver Einfluss von kompetentem Beistand

Was nach finsterer Vergangenheit klingt, ist nicht so lange her, wie man annehmen möchte. „Bis zum Ende der 1980er Jahre gab es so etwas wie PSNV bzw. PSAH überhaupt nicht“, sagt Sebastian Hoppe, Leiter der PSNV beim ASB München/Oberbayern, „man hatte den Bedarf daran schlicht nicht auf dem Schirm.“

Hoppe führt in Kooperation mit dem KIT-München am Lehrstuhl für Klinische Psychologie am Department Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität seit 2019 eine Studie zur Wirksamkeit der PSAH durch, um erstmalig wissenschaftlich zu untersuchen, was Einsatzkräfte des KIT-München täglich beobachten: einen positiven Einfluss von kompetentem Beistand auf Menschen in psychisch schwer belastenden Situationen.

Dabei geht es längst nicht ausschließlich um Einsätze nach potentiell in Traumata mündenden Situationen wie Katastrophen, Gewalt oder schweren Unglücken, sondern in der größeren Zahl der Fälle um alles, was Hoppe „völlig normale und gesunde Trauer“ nennt, für Menschen aber trotzdem oft schwer allein zu bewältigen ist.

"Psychische Erkrankungen waren lange Zeit schambehaftet"

Dass der Forschungsstand zum Einfluss der PSAH auf beide Situation - schwer traumatisierende Ereignisse und Trauerfälle gleichermaßen - zu diesem Thema mehr als spärlich ist, führt er auf dieselbe Ursache zurück, aus der körperlich unversehrt Betroffene von Unfällen, Gewalttaten oder plötzlichem Tod trotz eines zunehmend engmaschigen Netzes medizinischer Erstversorgung lange konsequent durch das Versorgungsraster fielen:

„Historisch haben psychische Beschwerden verglichen mit körperlichen schon immer eine untergeordnete Rolle gespielt. Psychische Erkrankungen waren lange Zeit schambehaftet, das wirkte sich natürlich auch auf die Notfallversorgung in dem Bereich aus - indem sie lange gar nicht stattfand.“

Ein so banaler wie offensichtlicher Grund dafür ist, dass psychische Verletzungen nicht bluten - und für Außenstehende dadurch als weniger bedrohlich empfunden werden, obwohl Betroffene womöglich gerade das schlimmste Erlebnis ihres Lebens verarbeiten.

Allein mit der Tragödie

Für Betroffene bedeutete das konkret, dass sie nach dem Verlust eines geliebten Menschen fast schon systematisch mit ihrer Situation allein waren, weil der Fokus der Einsatzkräfte auf den Verletzten lag, nicht aber auf den Menschen, die mit dem erlittenen Verlust und nach Unfällen nicht selten auch mit (mindestens subjektiv empfundenen) Schuldgefühlen weiterleben mussten.

Ob Eltern eines tödlich verunglückten Kindes vom Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht wurden, um Abschied nehmen zu können, hing von der Aufmerksamkeit und Bereitschaft der Rettungskräfte sowie deren zeitlichen Möglichkeiten ab.

Der Regelfall war jedoch, dass Hinterbliebene auf sich gestellt waren, sobald Rettungsdienst und Polizei den Ort des Geschehens verlassen hatten; Verlust und Einsamkeit gingen für Betroffene zu lange und allzu oft Hand in Hand.

Polizei rief den Pfarrer an

Wie die Gründung des KIT-München resultierte das langsame Umdenken also nicht aus einem singulären Defizitereignis, sondern aus dem wachsenden Unbehagen von Einsatzkräften darüber, dass eine Notfall-Versorgung zunehmend als unvollständig empfunden wurde, in der psychosoziale Belange generell und die von Hinterbliebenen im Speziellen keine Rolle spielten.

Einsatzkräfte der Polizei oder des Rettungsdienstes riefen beispielsweise spontan den ortsansässigen Pfarrer an, wenn es darum ging, Todesnachrichten zu überbringen oder Hinterbliebenen beizustehen. Er leistete dann, was heute die Aufgabe von dafür gut ausgebildeten Fachkräften der PSAH ist.

Obwohl der Bedarf an so etwas wie PSAH also erkannt worden war, zog die Institutionalisierung zeitlich stark verzögert nach. Dabei ist die Unterscheidung in Betroffene einer Großschadenslage auf der einen Seite und Zeugen oder Betroffene anderer potentiell traumatisierender Ereignisse auf der anderen Seite aus fachlicher Sicht kaum begründbar und am ehesten durch die sehr unterschiedliche öffentliche Rezeption zu erklären:

Das Sterben im privaten Umfeld geschieht oft im Stillen oder Verborgenen. Mediale Aufmerksamkeit ist somit genauso wenig vorhanden wie eine Kenntnisnahme über den kleinen Kreis der direkt Betroffenen hinaus.

„Größte denkbare Katastrophe“

Dass ein unerwarteter Todesfall in der Familie oder ein schwerer Unfall gesellschaftlich alltägliche Dinge sind, ändere nichts an der Bedeutung, die ein solches Ereignis für die Betroffenen habe, betont Müller-Cyran: „Für sie handelt es sich um die größte denkbare Katastrophe. Unser Grundgedanke war und ist deshalb, auch bei individuellen Katastrophen eine Unterstützung zu geben, die der Dimension gerecht wird, die sie für den einzelnen hat.“

Zumal der unerwartete Tod gesamtgesellschaftlich betrachtet eine keineswegs vernachlässigbare Größe ist. In Deutschland gibt es neben Unfällen und dem natürlichen Tod zu Hause, der Angehörige in knapp einem Viertel der Fälle vollkommen unerwartet trifft, jährlich etwa 11000 Suizide. Stets betrifft auch dieser Schritt eines Menschen andere: fast immer Angehörige bzw. Hinterbliebene, manchmal Augenzeugen und immer auch Einsatzkräfte.

Ein Indiz dafür, dass die Aufmerksamkeit für diesen Teil menschlicher Lebensrealität auch außerhalb des Rettungsdienstes zunahm, war 2013 die Auszeichnung von Dr. Andreas Müller-Cyran mit dem Bundesverdienstkreuz für seine Verdienste um die Psychosoziale Notfallversorgung.

Mittlerweile ist die PSNV-B und insbesondere die PSAH aus dem Einsatzalltag nicht mehr wegzudenken, die Psychosoziale Notfallversorgung für Einsatzkräfte (PSNV-E) hat sich leicht zeitversetzt ebenfalls stark weiterentwickelt. Sie ist jedoch nicht die Kernaufgabe des KIT-München.

Zwei bis drei Einsätze täglich

Das KIT-München betreut jedes Jahr etwa 2000 Menschen, die unmittelbar nach einem außergewöhnlichen Notfall unter schweren seelischen Belastungen leiden oder unter akutem psychischen Schock stehen.

Es wird regulär von der Leitstelle angefordert, wenn sich Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdienst mit Personen konfrontiert sehen, die als Hinterbliebene oder Zeugen keine ärztliche Notfallversorgung benötigen, wohl aber seelischen Beistand.

Das ist an 365 Tagen im Jahr durchschnittlich zwei- bis dreimal täglich der Fall. Die Einsatzkräfte arbeiten auf ehrenamtlicher Basis. Die Diensthabenden müssen in ihrer hauptamtlichen Tätigkeit frei oder einen Beruf haben, bei dem sie sofort alles fallen lassen und losfahren können. Zwei Dienste werden parallel besetzt (sodass zwei Einsätze zeitgleich angenommen werden können), zudem ist eine weitere Einsatzkraft rund um die Uhr im Hintergrund erreichbar und kann bei Bedarf unterstützen.

Kostenlose Versorgung von Betroffenen

Bei Transportmittel-Unfällen, Katastrophen oder terroristischen Anschlägen wie im Olympia-Einkaufs-Zentrum München kann die Aufgabe jedoch nicht von der diensthabenden Schicht allein bewältigt werden. In derartigen Fällen werden alle gut 40 ehrenamtlichen Einsatzkräfte alarmiert.

Die Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass sich auf diese Weise innerhalb einer Stunde zuverlässig ein Team von mindestens zehn Helfer:innen mobilisieren lässt. Seit 2001 kooperiert das KIT-München bei Katastrophen oder Terrorlagen im Ausland regelmäßig mit dem Auswärtigen Amt, sofern deutsche Staatsbürger:innen von den Ereignissen betroffen sind.

Das finanzielle Grundgerüst für die kostenlose Versorgung von Betroffenen bilden Zuschüsse der Landeshauptstadt München, des Landkreises München und Eigenmittel des ASB. Um weitere Kosten für Einsatzfahrzeuge, Material und die Ausstattung der Mitarbeiter:innen zu decken sowie Aus-, Fortbildungen und Supervisionen finanzieren zu können, ist das KIT-München seit seiner Gründung unverändert auf Unterstützung durch Spenden angewiesen.

Brückenfunktion und Hilfe zur Selbsthilfe

Das Ziel der PSAH setzt in Abgrenzung zum Rettungsdienst, zu Feuerwehr und Polizei nicht beim Ereignis, sondern bei dessen Wirkung auf die Betroffenen an. Ziel der Psychosozialen Akuthilfe ist weder die Relativierung des Erlebten noch eine Korrektur.

Sie betrachtet die betreuten Personen zudem nicht als Opfer, sondern als „temporär von der Situation überwältigt“, wie Müller-Cyran sagt. Es gehe darum, Menschen ihre eigenen Stärken bewusst zu machen und sie so „dazu zu befähigen, sich wieder zu der Situation zu verhalten“.

Floskeln wie „das wird schon wieder“ oder „die Zeit heilt alle Wunden“ sind im Einsatz laut Hoppe hingegen unpassend. „Das ist das Letzte, was wir sagen würden“, betont er, „banalen Trost vermeiden wir völlig. Es geht darum, dass Betroffene eine Idee entwickeln können, dass und wie es weitergehen kann – trotz allem.

Wir wissen: So hoffnungslos sich Betroffene in der Akutphase auch fühlen mögen und so überwältigend dieses Gefühl auch sein mag, in der Mehrzahl der Fälle wird sich das auch wieder ändern. Nicht unbedingt heute oder morgen, aber über die Zeit. Diese Aussicht kann Menschen in einem solchen Moment helfen.“

Bleiben, wenn alle gehen

Die Grundlagen dafür, diese Erfahrung für Betroffene verwertbar weiterzugeben, schafft seit 2002 die KIT-Akademie. Vera Angerer, Einsatzkraft und bis Sommer 2021 Leiterin des Ressorts Ausbildung, sagt: „Es geht immer darum, die Bedürfnisse eines Menschen zu erkennen und sich daran zu orientieren, was diese Person gerade braucht, um wieder beide Füße auf den Boden zu bekommen und die eigenständige Planung der nächsten Zeit zu bewältigen.“

Die in der Regel auf die ersten Stunden begrenzte Akutversorgung durch das KIT-München ist keine Behandlung einer passiven Person, sondern Hilfe zur Selbsthilfe: Die Einsatzkräfte geben erste Impulse auf dem Weg zurück in die eigene Handlungsfähigkeit oder vermitteln Betroffene in Fällen, in denen das nicht gelingt, in die psychosoziale Regelversorgung.

„Wir erfüllen eine Brückenfunktion“, sagt Müller-Cyran, „weil wir bei den Menschen bleiben, wenn alle anderen gegangen sind.“ Darauf, wohin die Brücke führt, haben auch die Einsatzkräfte des KIT München nicht immer Einfluss. Doch sie stehen seit fast drei Jahrzehnten mit ihrem Engagement dafür ein, dass sie niemand mehr allein überqueren muss.